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30.06.2021

Ort: Bundespräsident empfängt Nationalen Rat im Schloss Bellevue

Gute Konzepte, die im Schrank stehen, helfen nicht

Interview mit Kerstin Claus, Journalistin, systemische Beraterin und Vertreterin von Betroffenen im Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen, zur Umsetzung von Kinderrechten, zur Stigmatisierung von Opfern und zu fehlenden Schutzstrukturen

Kerstin Claus, Journalistin und Vertreterin von Betroffenen im Nationalen Rat (c) Kerstin Claus
Kerstin Claus
Nationaler Rat beim Bundespräsidenten (c) Bundesregierung / Los, Stefanie
Nationaler Rat bei Steinmeier

Kerstin Claus ist kommunalpolitisch für die Grünen im Kreistag Mainz-Bingen aktiv. Da sie als Jugendliche sexualisierte Gewalt im Bereich der evangelischen Kirche erlebt hat, engagiert sie sich seit vielen Jahren im Betroffenenrat

In der UN-Kinderrechtskonvention haben sich alle Vertragsstaaten verpflichtet, Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen. Deutschland hat diese Konvention vor 30 Jahren unterzeichnet. Wie beurteilst du die Situation von Kindern heute in Bezug auf sexuelle Gewalt?

Es fehlt uns gesellschaftlich immer wieder an Handlungskompetenz, es fehlt ein tief verankertes Bewusstsein für die Rechte von Kindern, es fehlen verlässliche Strukturen, in denen Kinder gut und sicher aufwachsen können, es fehlt ein Umfeld, das hinschaut und kompetent intervenieren kann. Dazu gehören Beschwerdestrukturen, Schutzkonzepte, aber auch ein fachliches Verständnis für Täterstrategien. Wenn man sich anschaut, wie wir in der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften in Schulen, Vereinen oder anderen Orten mit Kindern und Jugendlichen aufgestellt sind, dann haben Kinderrechte, aber viel zu oft auch Kinderschutz, nicht die notwendige Priorität.

Ohne eine solche Handlungskompetenz fehlen aber Sprechräume sowohl für Fachkräfte, denen sexuelle Gewalt begegnet, als auch für betroffene Kinder und Jugendliche oder für Erwachsene, die in ihrer Kindheit betroffen waren. Wenn Sprechräume fehlen, setzen sich Täterstrategien durch. Wir lassen in Deutschland nach wie vor viel zu viele Kinder, Jugendliche und Betroffene allein, weil sie sich nicht auf Strukturen des selbstverständlichen Umgangs und der Handlungskompetenz verlassen können. Wenn dann Sprechen und Anzeigen zu einer Opferstigmatisierung führt, bedeutet dies zusätzliche Belastung für Betroffene. Sprechen wird so zum Risiko. So setzt sich das gesellschaftliche Tabu immer weiter fort. Täterstrategien nutzen diese fehlende Handlungskompetenz und dieses Tabu immer wieder, um Taten zu vertuschen und Opfer sozial zu isolieren.

Du hast in deiner Jugend jahrelang sexualisierte Gewalt erlebt und engagierst dich seit vielen Jahren für konsequente Aufarbeitung und besseren Schutz von Kindern. Was ist dir als Betroffene besonders wichtig?

Mir ist wichtig, dass betroffene Kinder niedrigschwellig Hilfe bekommen, und zwar möglichst schnell. Gleiches muss aber auch später gelten, wenn Betroffene erwachsen geworden sind und erst dann anfangen, zu sprechen. Wir müssen wegkommen von der Opferstigmatisierung. Solange das Bild von gebrochenen Menschen – wie in der Debatte um die Fälle in NRW, wo von Seelenmord die Rede war – gesellschaftlich verankert ist, werden die vielen Menschen übersehen, die mit sexualisierter Gewalt in ihrer Kindheit umgehen mussten und doch die Schule erfolgreich abgeschlossen haben und heute ihr Leben bestmöglich meistern, beruflich und privat. Gerade wegen der drohenden Opferstigmatisierung ist es für die besonders schwer, sich heute Hilfe zu holen, weil sie so viel zu verlieren haben. Hier geht es um so viele Menschen, die wir kennen, von denen wir nur nicht wissen, was sie erlebt haben.

Erst wenn es ganz normal sein kann, zu sagen, ich habe sexuelle Gewalt erlebt, wenn sich dann nichts im Verhalten des Gegenübers ändert, und die Person mit genauso erhobenem Kopf aus einem Gespräch herausgehen kann, wie sie hinein gegangen ist, kommen wir gesellschaftlich weiter. Die Opferstigmatisierung führt immer wieder dazu auszublenden, dass wir alle Betroffene, aber auch Täter und Täterinnen kennen. Wir brauchen ein Stück Normalität, die Raum für Handlungskompetenz und konkretes Lernen schafft, beispielsweise wie ich damit umgehe, wenn ich von sexualisierter Gewalt erfahre oder ein Verdacht im Raum steht. Betroffene brauchen aber natürlich auch niedrigschwellige Strukturen für Beratung, therapeutische Hilfe oder die Chance auf das Nachholen von verpassten Ausbildungswegen aufgrund der erlebten Gewalt.

Du bist Mitglied des Nationalen Rats gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Der Nationale Rat hat gerade eine gemeinsame Verständigung für besseren Schutz vorgestellt. Welche Maßnahmen werden dort vorgeschlagen und wie beurteilst du sie?

Gefordert wird eine groß angelegte Dunkelfeldstudie, die konkrete Zahlen für Deutschland liefern soll, wie viele Menschen von sexueller Gewalt in ihrer Kindheit betroffen sind. Das begrüße ich sehr, weil politisches Handeln konkrete Zahlen braucht. Ansonsten können die Dimensionen immer wieder klein geredet werden.

Die verbindliche Verankerung von Schutzkonzepten gerade in Schulen ist der zweite wichtige Punkt, weil dort alle Kinder und Jugendliche erreicht werden können. Ich bin mir sicher, wenn es in meiner Jugend nur einen Schaukasten in der Schule gegeben hätte, dann hätte ich irgendwann verstanden, was mir gerade passiert. Und dann wäre es nur noch ein kleiner Schritt gewesen, die dort genannten Hilfestrukturen auch zu nutzen. Konkrete Hilfe wäre auch damals möglich gewesen. Dass ich das damals nicht wusste, das schmerzt mich heute. Deswegen sind Schutzkonzepte so wichtig, weil Erwachsene dann lernen, besser hinzusehen, Signale besser zu verstehen und Kinder und Jugendliche konkrete Ansprechpersonen finden können, die eben nicht hilflos, sondern kompetent und zugewandt reagieren können.

Der dritte wichtige Vorschlag bezieht sich auf kindgerechte Verfahren, um die Belastungen vor Gericht für Kinder so gering wie möglich zu halten. Das Kindeswohl muss immer im Vordergrund stehen. Dringend notwendige Unterstützung darf Kindern nicht versagt werden, weil es vermeintlich schädlich für ein Strafverfahren sein könnte.

Im Bereich der Hilfen für Betroffene fokussiert die gemeinsame Verständigung sehr auf die Akutintervention, die ohne Frage wichtig ist. Aber die Unterstützung für erwachsene Betroffene wie Traumatherapie für komplex traumatisierte Menschen oder die Finanzierung von Fachberatungsstellen kommen noch zu kurz. Das Papier ist ein erster Aufschlag mit vielen guten Gedanken, dem es gleichzeitig an Verbindlichkeit und Konkretisierung fehlt.

Viele der Vorschläge werden schon seit Jahren diskutiert. Wir brauchen endlich eine nationale Strategie, die von den Rechten der Kinder aus denkt, die Bund und Länder gemeinsam umsetzen und die partizipative Strukturen ausbaut.

Du hast sexuelle Gewalt in der evangelischen Kirche erlebt. Im Nationalen Rat sind EKD und auch andere Institutionen vertreten, die Übergriffe nicht richtig aufarbeiten oder Schutzkonzepte nicht konsequent umsetzen. Wie siehst du das als Betroffene?

Diese Institutionen bekräftigen immer wieder, wie wichtig Prävention sei und wie viel besser sie im Bereich Prävention heute aufgestellt sind. Gleichzeitig ist es gerade mit Blick auf die evangelische Kirche so, dass es bis heute kaum Strukturen der Verbindlichkeit gibt, weil die Verantwortung auf Kirchengemeinden delegiert wird. Es bleibt häufig bei Appellen. Gute Konzepte, die im Schrank stehen, helfen nicht. Wir brauchen eine vergleichbare Verbindlichkeit wie beim Brandschutz, also Schutzkonzepte in jeder Gemeinde, in der Kinder- und Jugendarbeit. Und daran fehlt es noch heute. Dabei müssten doch im Jahr 2021, angesichts der Herausforderungen, vor denen Kirchen stehen, solche Schutzkonzepte absolut selbstverständlich gelebter Teil kirchlicher Kinder- und Jugendarbeit sein.

Über Themen jenseits von Prävalenz, Prävention und Intervention wurde im Nationalen Rat in dieser Phase nicht gesprochen. Der Komplex der Aufarbeitung zum Beispiel blieb weitgehend außen vor, auch wenn er für erwachsene Betroffene immens wichtig ist.

Bundespräsident Steinmeier hat den Nationalen Rat am 30. Juni zu einem Gespräch ins Schloss Bellevue eingeladen, du warst als Vertreterin des Betroffenenrates bei dem Treffen dabei. Welchen Stellenwert hatte diese Einladung?

Ich habe einen Bundespräsidenten erlebt, der mit Engagement, Kenntnis und einem selbstverständlichen Umgang signalisiert hat, dass ihm das Thema wichtig ist. Er hat im Rahmen des Treffens auch den gesamten Betroffenenrat zu einem weiteren Gespräch eingeladen. Auch das ist ein deutliches Signal. Wenn es ihm gelingt, Dialog- und Sprechräume für dieses Themenfeld politisch zu öffnen, dann ist es ein guter und wichtiger Impuls für die gesellschaftliche Debatte über verbindliche Strukturen, die Kinder und Jugendliche, aber auch erwachsene Betroffene dringend brauchen.

In den letzten Jahren sind einige Gesetze zum Schutz von Kindern und Jugendlichen verschärft worden. Die Gewährleistung schützender Strukturen und Ahndung von sexueller Gewalt ist aber Ländersache. Wie beurteilst du die Situation in Rheinland-Pfalz und speziell in Mainz?

Verbesserungen müssen ankommen. Beispielsweise gab es Ende letzten Jahres eine erste Auswertung zur psychosozialen Prozessbegleitung, einem wichtigen Element des dritten Opferrechte-Stärkungsgesetzes. Bundesweit wurde mit jährlich 15 bis 17 Tausend Begleitungen bei Strafverfahren im Kontext sexueller Gewalt gerechnet. Rheinland-Pfalz ist mit weniger als 10 Begleitungen in 2019 und 2018 eines der Schlusslichter in ganz Deutschland. Dabei ist die psychosoziale Prozessbegleitung ein wirklich gutes Angebot des juristischen Dolmetschens: was passiert hier mit dir, was brauchst du. Das Angebot geht ins Leere, weil keine Strukturen geschaffen werden, damit Betroffene von dieser Möglichkeit tatsächlich erfahren und dann auch nutzen können. Die Zahlen finde ich erschreckend, insbesondere, dass Rheinland-Pfalz hier im bundesweiten Vergleich so hinten dran ist. Das muss besser werden.

Zur Situation in Mainz bzw. Mainz-Bingen: Es ist immer die Frage, wie praktisch man beim Kinderschutz denkt. Wir haben beispielsweise ein recht gut ausgebautes Netz an Schulsozialarbeit, müssten aber manchmal genauer hinschauen, wie dieses Netz beispielsweise in der Corona-Pandemie getragen hat. Wir sind gut, Strukturen zur Verfügung zu stellen, aber nicht unbedingt beim Nachhalten, was davon bei Kindern und Jugendlichen wirklich ankommt. Es fehlt immer wieder an diesen Rückkopplungsprozessen, weil oft gedacht wird, wenn wir die Strukturen schaffen, dann klappt es schon, dann wirken diese auch in die Fläche. Aber Strukturen allein sind keine Garantie, dass Hilfen auch tatsächlich abgefragt werden, wann immer der Bedarf da ist. Hilfe darf keine Holschuld sein, ihr Angebot muss sichtbar sein, damit es niedrigschwellig abgerufen werden kann.

Wir sind nicht weit genug beim Empowern von Kindern und Jugendlichen selbst, damit sie lernen, sichtbarer zu sein, und auch zu wissen, welche Rechte sie haben, welche Unterstützung es gibt. Wir brauchen klare Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen, auch in Gremien und Räten, in Kita und Schule, aber auch in den Orts- und Verbandsgemeinden, den Kreisen und im Land. Nur so können Kinder und Jugendliche Räume, die für sie wichtig sind, auch von Beginn an mitgestalten. Oder über gelingende Beschwerdemöglichkeiten von klein auf auch Veränderungen erreichen, egal ob es um eine stinkende Toilette, die Skaterbahn oder den Jugendraum geht. Selbstwirksamkeit ist ein wesentlicher Schlüssel. Das darf nicht Glückssache sein, sondern muss in guten Strukturen auch von Kindern und Jugendlichen erarbeitet werden. Da müssen auch Erwachsene lernen, abzugeben an die Kinder.

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